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Wo ist Felix?

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Chronologie

28. Dezember 1984
1984

Es ist Freitag, ein nasskalter Wintertag in Dresden. Wir benötigen noch ein paar Kleinigkeiten und entschließen uns spontan zu einem kleinen Einkaufsbummel ins Stadtzentrum. Unser Ziel ist das CENTRUM-Warenhaus auf der Prager Straße.

Wir wohnen auf der Louisenstraße, die schnellste Verbindung ins Zentrum stellt für uns die Straßenbahn der Linie 11 ab der Haltestelle Bautzner Straße/Rothenburger Straße dar. Wir können nach einigen Haltestellen direkt Visasvis zum CENTRUM-Warenhaus an der Haltestelle Prager Straße aussteigen. Selbstverständlich nehmen wir unseren 5 Monate alten Sohn Felix mit.

Etwa 16 Uhr erreichen wir das CENTRUM-Warenhaus. Felix schläft friedlich in seinem Kinderwagen. Das CENTRUM-Warenhaus verfügt auch an der Waisenhausstraße über einen Eingang. Einige Meter neben diesem Eingang befindet sich, mit separatem Eingang, eine vom Warenhaus betriebene Kinderbetreuung für Kleinkinder und Babys. Leider sind alle Plätze belegt. Deshalb stellen wir unseren Kinderwagen zwischen dem Eingang zur Kinderbetreuung und dem Eingang Waisenhausstraße ab. Hier stehen bereits einige Kinderwagen, in denen ebenfalls schlafende Babys liegen. Felix schläft ruhig weiter.

Als wir 30 Minuten später vom Einkaufen zurückkommen, trauen wir unseren Augen nicht:

FELIX IST WEG! Der Kinderwagen steht an der gleichen Stelle, aber er ist leer.

Anmerkung: Den Kinderwagen vor einem Kaufhaus oder einem anderen Geschäft abzustellen, war 1984 vollkommen normal. Damals ging es in den Läden und Geschäften noch sehr beengt zu, Kinderwagen durften nicht mit hineingenommen werden.

Nach wenigen Minuten läuft eine der größten Polizeiaktionen in der Geschichte der DDR an. Alle in Dresden verfügbaren Kräfte werden aktiviert und eingesetzt, die Sonderkommission „Felix“ hat in den ersten Wochen mehr als 40 Mitarbeiter.

In alle denkbaren Verdachtsrichtungen wird ermittelt, so u. a.:

  • Familien mit abgelehnten Adoptivanträgen;
  • Personen, die bereits einmal mit einer Kindesentführung im Zusammenhang standen;
  • Frauen mit Tot- oder Fehlgeburten;
  • Auch wir standen am Anfang der Ermittlungen im Focus der Kriminalpolizei. Versuchen die Eltern von Felix eine Straftat zu vertuschen?

Die Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei und deren freiwillige Helfer, die Bereitschaftspolizei und auch die Transportpolizei sowie die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit drehen in Dresden praktisch jeden Stein um, um auszuschließen, dass Felix irgendwo abgelegt wurde. Gleichzeitig wurden Befragungen und Vernehmungen durchgeführt, mit dem Ziel, Hinweise auf den Tathergang zu erlangen.

Das und noch viel mehr wird unternommen, leider ohne ein greifbares Ergebnis. Der Leiter der Sonderkommission, Ekkehard Schuldt sagte hierzu später einmal: “Wir hatten nichts, absolut nichts, keine Spur.“

Sächsische Zeitung 29.12.1984 Sächsische Zeitung 31.12.1984
06. Januar 1985 - die Spur
1985

Der 6. Januar 1985 brachte Bewegung in die Ermittlungen. „Die Spur in dem Fall“ tauchte auf und drei Tage später kann dieser Ablauf der Kindesaussetzung rekonstruiert werden:

  • 12:24 Abfahrt des Urlauberzuges der sowjetischen Streitkräfte vom Bahnhof Dresden-Neustadt nach Brest.
    An den planmäßigen Eilzug E994 nach Frankfurt/Oder waren im Zeitraum 24.12.84 bis 07.01.85 fünf Wagen der sowjetischen Staatsbahnen angehängt. Nur sowjetisches Personal hatte Zugang zu diesen fünf Waggons. Der Fahrkartenverkauf erfolgte personalisiert über die sowjetische Garnison in Dresden.
  • 13:00 Ein Zeuge sieht in der Nähe der Friedrich-Engels-Straße einen Mann mit einem Schlitten, auf dem sich ein großer Pappkarton befindet.
  • 13:15 Im Hausflur der Friedrich-Engels-Straße 11 in Dresden (heute Königstraße 11) wird von Anwohnern in einem großen Karton ein männliches Kleinkind gefunden – es ist nicht Felix!

Keiner vermisst diesen Jungen! Keiner kennt seinen Namen. Zur Klärung seiner Identität und zur Bewertung seines Gesundheitszustandes wird der noch namenlose Knabe in der Kinderklinik der Medizinische Akademie „Carl-Gustav-Carus“ zu Dresden untersucht.

Aus dem zeitlichen Ablauf und der örtlichen Nähe der Geschehnisse sowie der zwei Tage später vorgelegten Untersuchungsergebnisse zum Findelkind zieht die Kriminalpolizei den Schluss:

Felix wurde entführt und der unbekannte Knabe wurde ausgesetzt: Hier liegt ein Kindesaustausch vor!

Gefundenes Kind
08. Januar 1985
1985

Der Leiter der Kinderklinik legt seinen Bericht über das Findelkind vor.

Der ausgesetzte Junge wird auf ein Alter von ca. 12 Monaten geschätzt. Das Alter ergibt sich aus dem Vorhandensein von bereits 8 Milchzähnen, seinem allgemeinen Entwicklungszustand und einer Altersbestimmung durch die sogenannte „Handwurzelknochenmethode“.

Die Ärzte stellen fest, dass das Findelkind in den ersten Lebenswochen einer intensiven medizinischen und Infusionsbehandlung unterzogen worden sein muss.

Die bei dem Findelkind angewandte chirurgische Methode zur Öffnung der Venen für die Infusionsgaben ist nicht typisch für das Gesundheitswesen der DDR. Sie erscheint „rustikal“ und die untersuchenden Ärzte mutmaßen, dass ein Arzt ohne spezifische Ausbildung für mikrochirurgische Eingriffe, so wie es bei Kleinstkindern angemessen wäre, die Venenöffnungen vorgenommen haben könnte.

Insgesamt findet man an 6 Positionen Narben von Venenöffnungen (Ellenbeugen, Handgelenke, Fußknöchel). Über die genaue Lage der „Venae sectia“ gibt eine Zeichnung Auskunft.

Gesundheitsbericht Findelkind 08.01.1985 Gesundheitsbericht Findelkind 08.01.1985 Sächsische Zeitung 08.01.1985 Sächsische Zeitung 09.01.1985 Neues Deutschland 10.01.1985
10. Januar 1985
1985

Auf Grund des medizinischen Berichtes über das Findelkind und weiterer Ermittlungsergebnisse wendet sich die Militärstaatsanwaltschaft der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR mit einem Rechtshilfeersuchen an die Militärstaatsanwaltschaft der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD).

11. Januar 1985
1985

Der Leiter der Bezirksverwaltung Dresden des Ministeriums für Staatssicherheit, Generalmajor Böhm, wendet sich an den Leiter der sowjetischen Militärabwehr bei der 1. Gardepanzerarmee in Dresden, Oberst Iljin, mit der Bitte um Unterstützung bei der Aufklärung der Kindesentführung und Kindesaussetzung.

BDVP-Fahndungsplakat 15.01.1985
01. Februar 1985
1985

Auszug aus dem Vermerk der Militärstaatsanwaltschaft der NVA (Oberst Müller, Militäroberstaatsanwalt) vom 01.02.1985:

„Zu dem am 10.01.1985 im Zusammenhang mit der Kindesentführung/Kindesaussetzung in Dresden an den Militärstaatsanwalt der GSSD gerichteten Rechtshilfeersuchen teilte Oberst Terjochin (Stellvertreter des MStA der GSSD) am 31.01.1985 folgendes mit:

„3. Es wird davon ausgegangen, dass die Entführer unter Mitnahme des Kindes (gemeint ist hier unser Felix!!) aus der DDR bereits ausgereist sind und sich in der UdSSR aufhalten. … Der Militärstaatsanwalt der Gruppe geht davon aus, dass zwischen der Kindesentführung und der Kindesaussetzung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht und die Täter aus der GSSD stammen.“

Hinweis: Von diesem Aktenvermerk haben wir, die Eltern von Felix, erst Anfang der 2000-er Jahre beim Studium unserer Stasiakte Kenntnis erhalten.

Sächsische Zeitung 01.02.1985
27. Dezember 1985
1985

Die Einsatzgruppe Kindesentführung der Kriminalpolizei Dresden formuliert das Schlussprotokoll. Darin sind noch einmal alle Maßnahmen kurz aufgeführt und die Ergebnisse zusammengefasst. „Da gegenwärtig die kriminalistischen Mittel und Möglichkeiten zur Aufklärung der Straftat erschöpft sind und keine begründeten Aussichten bestehen, die unbekannten Täter zu ermitteln, wird vorgeschlagen, das Ermittlungsverfahren gem. § 143 Ziff. 1 StPO vorläufig einzustellen.“

Februar 1986
1986

In einem persönlichen Gespräch überbringen uns der Staatsanwalt der Stadt Dresden und der Leiter der Sonderkommission „Felix“ die Information, dass das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde. Die Begründung war kurz: Es liegen keine weiteren erfolgversprechenden Ermittlungsansätze vor, alle Möglichkeiten seien ausgeschöpft worden.

Wir hatten bereits im Verlauf des Jahres 1985 Stück um Stück die Hoffnung verloren, unseren Felix kurzfristig oder überhaupt wieder zu bekommen. Wir waren noch jung und wollten ohnehin nicht nur ein Kind haben. Deshalb saß Mutter Lenore beim Gespräch im Februar 1986 bereits wieder mit einem Kind unter dem Herzen am Tisch. Im Juni erblickte Fabian das Licht der Welt.

August 1988
1988

Unsere Tochter Nadja wurde geboren. Wir sind eine glückliche Familie.

1989 / 1990
Wende

Die politische Wende und der Anschluss der DDR an die BRD stellen uns vor große private und berufliche Herausforderungen. Die Suche nach Felix tritt in den Hintergrund.

28. Dezember 1999
1999

10 Jahre nach der Wende sitzen wir beruflich fest im Sattel, die Kinder haben die Grundschule bereits hinter sich gelassen und gehen auf dem Gymnasium ihren Weg. Felix rückt in unserer Gedankenwelt wieder weiter nach vorn.

In einem ersten Schritt wollten wir uns mit dem damaligem Soko-Leiter Schuldt unterhalten. Von ihm erhofften wir uns Einblicke in die damalige Ermittlungstätigkeit.

Anmerkung: Als vom Strafverfahren Betroffene wurden wir nicht über die Inhalte der Ermittlungstätigkeit informiert.

Wir hatten Informationen, dass Herr Schuldt seit einiger Zeit bei der Kriminalpolizei in Rostock arbeitet. Die Kontaktaufnahme gelang uns, Herr Schuldt verhielt sich anfangs allerdings sehr reserviert.

Sächsische Zeitung 1999
Juli 2000
2000

Wir entschließen uns, einen Antrag auf Wiederaufnahme des 1985 eingestellten Ermittlungsverfahrens zur Kindesentführung zu stellen.

Januar 2001
2001

Die Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens wird ohne Angabe von für uns nachprüfbaren Gründen durch die Staatsanwaltschaft Dresden abgelehnt.

Gegen diese Ablehnung legen wir Beschwerde ein. Im Ergebnis erhalten wir im August 2001 von Herrn Staatsanwalt Avenarius eine begründete Ablehnung der Wiederaufnahme:

Nach bundesdeutscher Rechtsprechung ist die Straftat bereits verjährt.

Staatsanwalt Avenarius räumt uns die private Einsichtnahme in die Ermittlungsakten ein. Wir verbringen mehrere Tage mit der Sichtung der in 12 Umzugskartons archivierten Unterlagen.

Mai 2001
2001

Wir stellen erstmals einen Antrag auf Einsicht in unsere Stasiakte. Sehr viele der uns von der Behörde präsentierten Dokumente kennen wir bereits – es sind Kopien der Ermittlungsakten der Kriminalpolizei.

Aber: Ganz offensichtlich hat das Ministerium für Staatssicherheit der DDR intensiv und zielgerichtet ermittelt. Die Mitarbeiter wollten scheinbar der Kripo zeigen, dass sie die besseren Ermittler sind.

Und: Auf dem Aktendeckel der geschlossenen Akte hatte der damalige Leiter der Bezirksbehörde der Staatssicherheit, Generalmajor Böhm, handschriftlich vermerkt: „Bitte gut aufheben!“. Dieser Vorgang war ihm offensichtlich sehr wichtig.

23. August 2001
2001

Die Kindesentführung als Straftat ist verjährt. Diesen Fakt müssen wir akzeptieren.

Trotzdem vermissen wir unseren Sohn Felix. Gibt es noch eine Möglichkeit, die Behörden zum Arbeiten zu bringen?

Ja, denn im Dezember 1984 haben wir keine Vermisstenanzeige aufgegeben. Diese Anzeige stellen wir am Nachmittag des 23. August 2001 im Polizeirevier Dresden-Mitte.

Begeistert von unserer Anzeige ist die Kriminalpolizei nicht. Wir müssen etwas Druck aufbauen, bis die alten Akten wieder geöffnet werden.

10. Juli 2002
2002

Die Kriminalpolizei Dresden wendet sich auf direktem Weg an Interpool Russland. Von dort kommt zügig der Hinweis, man möge die Anfragen auf dem üblichen Dienstweg, also über die Staatsanwaltschaft und das Ministerium des Innern etc. stellen.

03. März 2003
2003

Das 1. Russische Fernsehen lädt uns als Gast in die Vermisstensendung „schdi menja“ (warte auf mich) ein. Der Deutschlandkorrespondent des Senders, Oleg Migunov, dreht mit uns in Dresden eine kurze Reportage als Einspieler für unseren Fernsehauftritt.

Am 17. März 2003 ist es so weit. Wir stellen uns den Fragen der Moderation und haben selbst die Möglichkeit, dem Studiopublikum und dem Publikum an den Fernsehgeräten unsere Fragen zu stellen.

Obwohl die Sendung regelmäßig 20 Millionen Zuschauer in Russland und den Nachbarstaaten an die Fernsehgeräte zieht, erhalten wir nicht einen einzigen Hinweis für unsere weitere Suche.

21. Mai 2003
2003

Die Staatsanwaltschaft Dresden sendet ein ausführliches Rechtshilfeersuchen an die Militärstaatsanwaltschaft Moskau.

02. Februar 2005
2005

Wir wissen, dass Bundeskanzler Schröder und seine Frau freundschaftliche Beziehungen zur Familie Putin unterhalten. Also schreiben wir Frau Schröder-Köpf eine persönliche Anfrage. Wir bitten Sie, unser familiäres Schicksal bei Herrn Putin vorzutragen und um Unterstützung zu bitten.

Die Antwort kommt sehr schnell und ist NEGATIV. Sie will uns nicht helfen. Unsere Mitte Mai nochmals ausführlich vorgetragene Bitte wird von ihrer Büroleiterin kurz und emotionslos abgewiesen.

16. Mai 2005
2005

Wir erhalten die Information, dass die Antwort auf das Rechtshilfeersuchen vom Mai 2003 bei der Staatsanwaltschaft in Dresden eingegangen ist, es sind immerhin 120 Seiten! Wer sich das Dokument ansieht, erkennt, dass gearbeitet wurde. Aufgabenstellungen, Vernehmungsprotokolle, selbst Geburtsurkunden und Dienstverträge ohne Schwärzungen finden sich darin.

Mittendrin die Adresse des Mannes, der beschuldigt wird, den Karton mit dem Findelkind im Hausflur Friedrich-Engelsstraße 11 abgestellt zu haben: Sultanow lebt in Ufa!

Aber gibt es auch die Antwort auf unsere Frage: „Wo ist Felix?“ – Nein!

04. Oktober 2005
2005

Wir entschließen uns, einen Antrag auf Wiederaufnahme des 1986 eingestellten Ermittlungsverfahrens zur Kindesentführung zu stellen.Wir lüften auf diesem Weg ein lang und gut gehütetes Geheimnis. Bisher wussten nur unsere Familien, sehr enge Freunde und natürlich Kripo und Staatsanwaltschaft, was uns im Dezember 1984 widerfahren war. Durch den Filmbeitrag im MDR erfährt erstmalig ein breites deutsches Publikum, wer die Eltern von Felix sind.

Es gelingt Knud Vetten, Herrn Sultanow in Ufa interviewen zu lassen. Mimik, Gestik, Antwortstil und das gesamte Auftreten gegenüber dem Kameramann lassen nur diesen Schluss zu: Der Mann kennt das Thema bestens, will, kann und darf aber nichts sagen. Er ist zum Schweigen verurteilt.

10. Oktober 2006
Politik

In Dresden findet der „Petersburger Dialog“ statt. Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, wird als Gast erwartet. Wir platzieren uns am Taschenberg an prägnanter Stelle mit einem Suchplakat so, dass Wladimir Putin uns sehen muss.

Als er aus dem Auto steigt, würdigt er uns keines Blickes. Doch die kräftige Stimme von Lenore schallt unüberhörbar über den Platz: „Herr Putin, bitte helfen Sie mir, meinen Sohn zu finden!“ Wir sind uns sicher, Herr Putin hat den Satz gehört und auch verstanden. Wir sind uns auch sicher, dass ihn seine Berater bei der Anfahrt zum Grünen Gewölbe vor uns „gewarnt“ hatten und er deshalb stur von uns wegblickte. Er kennt das Thema! Durch unseren Auftritt in der Öffentlichkeit wird das Thema „Wo ist Felix?“ wieder verstärkt wahrgenommen. Wir erhalten auf politischer Ebene Hilfe bis hin zum Kanzleramtsminister Thomas de Maizière.

Suchplakat 2006 Suchplakat 2006 Kanzlerin Angela Merkel Aus der Bild vom 13.10.2006
13. Dezember 2006
Politik

Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder signiert im Haus des Buches an der Prager Straße sein Buch „Entscheidungen - mein Leben in der Politik“. Wir stellen uns mit in die Schlange zum Signieren.

Anstelle eines Buches zum Signieren überreichen wir Herrn Schröder ein Schreiben mit der Bitte, sich bei Herrn Putin für unser Anliegen einzusetzen. Herr Schröder ist sichtlich irritiert, nimmt den Brief aber entgegen. Sein Büro antwortet binnen drei Wochen. Auch diese Antwort hilft uns nicht weiter, denn Herr Putin hat unser Hilfeersuchen nicht gesehen.

04. Januar 2007 – wir lernen Martin kennen
2007

Was geht in einem jungen Mann vor, der als Kind erfahren hat, dass er adoptiert wurde und später merkt: das ist nur ein Teil der Wahrheit?

Die ganze Wahrheit ist: Deine Eltern haben dich wie einen missliebigen Gegenstand behandelt, haben dich weggelegt und sich etwas „Besseres“ genommen! Mit dieser Geschichte will man sich nicht freiwillig beschäftigen. Deshalb hat es einige Zeit gedauert, bis wir das Findelkind Martin kennenlernen durften. Er hatte seine Geschichte verdrängt und sich auf sein Leben konzentriert. Dafür hatten und haben wir Verständnis. Trotzdem war es für uns wichtig, den jungen Mann persönlich kennenzulernen.

Ende 2007 – Anfang 2008
Medien

Wir konnten erreichen, dass sich die Kriminalpolizei und die Staatsanwaltschaft noch einmal mit unserem Fall beschäftigen. Die russische Staatsanwaltschaft übermittelt die Krankengeschichten von fünf Jungen, die 1983 – 1984 in einem Dresdner Militärkrankenhaus der sowjetischen Streitkräfte wegen akuter, schwerwiegender Erkrankungen intensivmedizinisch betreut wurden. Die Dresdner Staatsanwaltschaft lässt prüfen, ob es einen Zusammenhang zwischen den beschriebenen Behandlungen und den Operationsnarben gibt, die der am 06. Januar 1985 ausgesetzte Junge aufwies.

Russische Medien greifen das Thema massiv auf. Umfangreiche Artikel in diversen landesweit verbreiteten Zeitungen, Meldungen in Hauptnachrichten der Fernsehsender und ein längerer Magazinbeitrag in der Sendereihe „Maximum“ des Senders NTV Russland publizieren unser Schicksal in Russland und den angrenzenden Staaten.

29. und 30. Januar 2008
Moskau

Auf Einladung des Fernsehsenders NTV Russland flogen wir für zwei Tage nach Moskau. Im November 2007 hatten wir dem Sender in unserer Heimatstadt Dresden zur Entführung unseres Sohnes Felix Rede und Antwort gestanden. NTV bot uns an, einen Termin bei der zuständigen russischen Staatsanwaltschaft zu vereinbaren und mit uns gemeinsam diesen Termin wahrzunehmen.

Am 30. Januar 2008 wurden wir vom Leiter der Ermittlungsgruppe, Oberst der Justiz Generalow, in seinem Büro empfangen. In einem offenen Gespräch informierte er uns über den Auftrag seiner Ermittlungsgruppe. Auf unsere Nachfrage bestätigt er, dass Präsident Putin der Auftrag persönlich gestellt hat. Gegenwärtig werden alle jungen Männer des fraglichen Geburtszeitraumes überprüft, deren Geburt von den Standesamtsbüros der Kommandanturen der sowjetischen Streitkräfte in der DDR registriert worden waren. Diese Maßnahme ist zeitlich sehr aufwändig, mit einem abschließenden Ergebnis ist daher nicht unmittelbar zu rechnen.

Anmerkung: Die Standesamtsbüros der Kommandanturen der GSSD dokumentierten in Summe pro Jahr etwa 8.000 Geburten. Man musste also aus zwei Geburtsjahrgängen jeweils etwa 4.000 junge Männer finden und befragen/überprüfen. Es steht zu bezweifeln, dass man alle 8.000 auffinden konnte. Das Einwohnermeldesystem ist löchrig, nicht alle Offiziere und Zivilangestellten stammten aus Russland und nach 1990 haben viele Familien aus der GUS ihr Glück im Ausland gesucht.

Aus diesem Gespräch nahmen wir die Gewissheit mit, dass die russischen Behörden alles unternehmen werden, dass aus Deutschland vorliegende Rechtshilfeersuchen bis zum Erfolg zu bearbeiten. Wir treten unsere Heimreise in schon fast euphorischer Stimmung an.

13. Februar 2008
TV

Wir stellen uns in der RTL-Reihe „Stern-TV“ den Fragen von Günther Jauch und berichten über die jüngsten Erlebnisse, die neuesten Erkenntnisse und die Gründe für unseren starken Optimismus, in einer überschaubaren Zeitspanne doch noch zu erfahren, wo sich Felix befindet und wie es ihm geht.

20. Juli 2009
DNA

Das Institut für Rechtsmedizin an der medizinischen Akademie Dresden hat die bei der Kriminalpolizei gelagerten Bekleidungsstücke von Martin mit den neuesten Untersuchungsmethoden auf DNA-Material untersucht und ist fündig geworden! An Martins Sachen wurde mikrobiologisches Material von Felix gefunden.

Jetzt steht endgültig fest, Felix und Martin wurden gegeneinander ausgetauscht.

30. Dezember 2009
Presse

Die russische Wochenzeitung „Argumenty i Facty“ berichtet in ihrer außerhalb der GUS-Staaten erscheinenden internationalen Ausgabe Nr. 1 / 2010 ausführlich über unser Schicksal und unsere seit 25 Jahren andauernde Suche nach Felix. Für Ende Januar oder Anfang Februar 2010 ist geplant, diesen Beitrag, angereichert um Leserhinweise und um die Stellungnahme des in Russland zuständigen Staatsanwaltes, in den GUS-Staaten sowie auf Internetportalen zu veröffentlichen. Ob das den Durchbruch bringt?

14. September 2010
Belohnung

Nächste Woche gibt es in unserer Familie einen runden Geburtstag zu feiern. Felix‘ Mama wird schon 50! Es ist traurig, aber mehr als die Hälfte ihres Lebens hat sie ohne ihren ersten Sohn verbracht und weiß bis heute nicht, ob er noch lebt. In zwei Jahren trifft das mit dem halben Leben auch auf den Vater von Felix zu. Ob wir diesen Zustand bis dahin beendet haben?

Wir kennen inzwischen die Namen von etwa 15 jungen Männern, die von der russischen Staatsanwaltschaft als potenzielle Kandidaten, Felix zu sein, ausgewählt wurden, die DNA-Proben waren aber alle negativ.

Weil die Strohhalme, nach denen wir noch greifen können, immer seltener und brüchiger werden, haben wir uns entschlossen, die Belohnung für den entscheidenden Hinweis auf 10.000,00 € zu erhöhen. Geb‘s Gott, dass es uns hilft!

08. Januar 2011
Nachruf

Nachruf!

Genau vor drei Jahren erreichte uns ein Hinweis auf einen jungen Mann, der durchaus Felix sein könnte. Er heißt Sergeij und lebt in Kaliningrad. Sein Arbeitskollege informierte uns damals über eine Begebenheit, aus der er den Schluss gezogen hatte, dass Sergeij unser Sohn sein könnte.

In der Zeit seit dem Hinweis im Jahr 2008 war es uns nicht gelungen, eine DNA-Probe von Sergeij bis nach Deutschland zu bringen und so die Vermutung zu bestätigen oder eben auch nicht.

Heute erfuhren wir aus dem Internet, dass Sergeij am 16.12.2010 auf tragische Weise ums Leben gekommen ist.

Obwohl wir dich nicht kennen lernen durften, behalten wir dich in Erinnerung und werden auch nach deinem Tod noch versuchen, die uns interessierende Frage zu klären. Wir trauern um Sergeij.

Sergeij aus Kaliningrad
19. März 2011
Ermittlungen

Vor drei Tagen erhielten wir E-Mails mit dem Hinweis, dass am Einkaufszentrum in Berlin-Schöneweide an der Rummelsburger Straße innerhalb von 24 Stunden diverse Graffitis zu Felix Tschök entstanden seien. Wir waren irritiert, schockiert, nervös und ratlos in Einem. Speziell der Hinweis, man wolle ihn töten, hat uns massiv beunruhigt. Wir konnten nicht beurteilen, wer oder was hinter dieser Aktion steht. Vorgestern informierte uns die Dresdner Kripo über ihre Aktivitäten dazu.

Das Landeskriminalamt Berlin hat die Ermittlungen zum Verursacher und zum Hintergrund der Schmierereien aufgenommen.

29. April 2011
DNA

Die Kriminalpolizei Dresden informierte uns auch darüber: Vor ein paar Wochen hätte sich ein junger Mann bei der Polizei vorgestellt und behauptet, er sei Felix Tschök. Zur Klärung des Wahrheitsgehaltes dieser Aussage gab er freiwillig eine Speichelprobe für einen DNA-Test ab. In der Zeit zwischen der Abgabe der Speichelprobe und dem Abschluss der nötigen Untersuchungen entstanden die Berliner Graffitis. Das Ergebnis des DNA-Tests liegt jetzt vor – er ist nicht unser Felix.

Berliner Graffitis 2011 Berliner Graffitis 2011 Berliner Graffitis 2011
29. Dezember 2013
Online

Immer wieder einmal wurden wir in den letzten Monaten, so wie in den Jahren zuvor auch gefragt, ob es denn wirklich nichts Neues bei der Suche nach Felix geben würde.

Unabhängig davon gibt es immer wieder Anregungen aus dem Kreis der an unserem Fall Interessierten, wonach oder nach wem man konkret fragen oder suchen sollte. Es werden in sozialen Medien, z. B. in www.vk.com (ein Netzwerk in Russland – „in Kontakt“), Gruppen zur Suche nach Felix gebildet, Netzwerke werden nach möglichen Kandidaten durchsucht u. s. w. u. s. f.. Ab und an melden sich eine Zeitungsredaktion oder ein Fernsehsender und möchte wieder einmal über uns berichten. Diesen Ansinnen sind wir im abgelaufenen Jahr ausgewichen, da die Redaktionen erfahrungsgemäß nur ihrer sogenannten Chronistenpflicht nachkommen wollen. Um Felix ein Stückchen näher zu kommen, für eine aktive Aufklärung fehlen den Redakteuren die Zeit und vor allem die nötigen finanziellen Mittel. Außerdem ist die Sprachbarriere nicht unerheblich.

19. März 2014
Moskau

Die deutsche Botschaft in Moskau meldet sich bei uns. Die Kollegen informierten uns über eine kürzlich erfolgte Rücksprache mit dem sogenannten Ermittlungskomitee der russischen Staatsanwaltschaft (das Ermittlungskomitee ist in Russland das höchste Organ der Strafverfolgungsbehörden). Man habe in den letzten Jahren eine Vielzahl junger Männer ausfindig gemacht, die in unserem Fall eine Rolle spielen könnten. Man bitte noch um etwas Geduld, denn in etwa 400 Fällen müssten noch entsprechende detaillierte Überprüfungen durchgeführt werden. Das Positive an der Nachricht ist der Umstand: Es gibt noch keinen Abschlussbericht.

23. Januar 2015
Verjährung

Die Staatsanwaltschaft in Dresden sucht nicht mehr aktiv nach Felix. Die Straftat ist verjährt. Die Täter können auch in Deutschland nicht mehr vor ein Gericht gestellt werden. Ob wir jetzt die Antwort auf unsere Frage – wo ist Felix? – erhalten?

Hintergrund ist der Umstand, dass nun, nach mehr als 30 Jahren auch die letzte juristische Möglichkeit, die letzte juristische Basis ausgedient hat, auf deren Grundlage man noch aktive Ermittlungsarbeit leisten konnte. Sollte irgendwann einmal ein Hinweis eingehen, wird natürlich an dem Vermisstenfall weitergearbeitet.

10. Oktober 2015
Kontakt

Auf unserem Festnetztelefon sehen wir den Anruf einer Telefonnummer aus der russischen Föderation. Wir bitten unseren russischen Freund Andrej, diese Telefonnummer zurückzurufen: Der Anrufer war Juri aus Kaliningrad. Er erklärt, dass er Informationen für uns habe, diese aber nur in einem persönlichen Gespräch preisgeben wolle. Wir sollen ihn in Kaliningrad besuchen!

13.07.2016
Kaliningrad

In unserem Sommerurlaub in Moskau und Str. Petersburg haben wir uns mit unserem russischen Freund Andrej verabredet. Andrej stimmt den Besuchstermin mit Juri in Kaliningrad ab und fliegt kurzerhand mit Ebs von St. Petersburg nach Kaliningrad.

Der Besuch spielt sich hauptsächlich in einer von Juri zu einer Werkstatt mit Wohnzimmercharakter umfunktionierten Garage ab. Er offenbart uns, dass er 1984/1985 unter dem Deckmantel eines Mitarbeiters der Militärstaatsanwaltschaft als KGB-Agent in Dresden stationiert war. Es gelingt ihm, im Mai 1985 die Krankenschwester ausfindig zu machen, die 1984 das Findelkind im sogenannten „Unteren Krankenhaus“ der GSSD in Dresden betreut hat. Direkte Gespräche mit ihr werden ihm von seinen Vorgesetzten verboten.

Über russische soziale Netzwerke gelingt es Andrej etwas später, die Krankenschwester ausfindig zu machen und er kann auch mit ihr telefonieren. Sie bestätigt, in dem Krankenhaus gearbeitet zu haben, kann sich allerdings an nichts erinnern. Andrej hatte eher den Eindruck, dass sie sich an nichts erinnern darf.

Zum Abschied überreicht Juri als Geschenk ein etwa DIN A4 großes Bild mit einer markanten Bernsteinapplikation.